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In den Niederlanden ist der Kriminalreporter Peter R. de Vries seiner Unerschrockenheit wegen ein Held. Nun scheint ihm die Drogenmafia zum Verhängnis geworden zu sein.
Elsbeth Gugger, Amsterdam
6 min
Als die Behörden ihn warnten, sein Name stehe nun auf einer Todesliste, erhielt Peter R. de Vries postwendend eine Antwort darauf. Der Mafiaboss, der die Liste angelegt haben soll, meldete sich zu Wort. «Reiner Unsinn», schrieb Ridouan Taghi, der damals meistgesuchte Mann der Niederlande, an de Vries, den bekanntesten Kriminalreporter der Niederlande. «Ich habe keinen Grund, dir etwas anzutun», erklärte der Mann aus der Unterwelt. Grosszügig versicherte er: «Du kannst dich frei bewegen, ohne Gefahr von mir zu befürchten. Ich habe 100000 Prozent nichts gegen dich.»
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Wie lange Taghis Wort tatsächlich galt, ist schwer auszumachen. Am Dienstagabend dieser Woche streckte ein Schütze in der Amsterdamer Innenstadt den Kriminalreporter de Vries nieder. Der 64-Jährige liegt seither im Spital, sein Zustand ist kritisch. Mindestens eine der fünf Kugeln traf seinen Kopf.
Dass Taghi hinter dem Attentat steckt, der niederländische Drogenbaron mit marokkanischen Wurzeln, der wegen seines zierlichen Wuchses «der Kleine» genannt wird, scheint vielen im Land ausgemacht. De Vries wäre bereits das dritte Opfer im Zusammenhang mit dem Prozess, den die niederländische Justiz gegen den inhaftierten Taghi führt. Und de Vries ist eine Institution im Land: ein Aufdecker, ein Volksheld, ein Rächer der Entrechteten, weit mehr als ein Reporter.
Der Mann mit dem weissen Kraushaar, der einst beim Boulevardblatt «De Telegraaf» begann, kam gerade von einem seiner regelmässigen Fernsehauftritte in der Vorabendsendung «RTL Boulevard» und ging wie immer die paar Schritte vom Studio in die Untergrundgarage, als der Mörder feuerte.
Der Anschlag auf offener Strasse passt zweifellos ins Muster der mafiösen Gang des «Kleinen». Der mutmassliche Schütze und sein Fahrer konnten dank Zeugenaussagen und Kamerabildern kurze Zeit später auf der Autobahn verhaftet werden. Ob die beiden tatsächlich für die Tat verantwortlich sind, ist Gegenstand der laufenden Ermittlungen.
«Kämpfe, Peter!»
Derweil bringen immer mehr Menschen Blumen an den Tatort nahe beim Amsterdamer Leidseplein. Auf vielen Karten steht «Kämpfe, Peter!». Ob der Journalist auch diesen Kampf gewinnt, ist noch nicht sicher. Andere hätten nach der Episode mit der Todesliste mit dem Job aufgehört, hätten sich vielleicht zurückgezogen aus Furcht um das eigene Leben und jenes der Familie. Nicht so de Vries.
Jeden Morgen beim Aufwachen wurde der Kriminalreporter bisher an das erinnert, was er seit 40 Jahren verinnerlicht hat: «Die einzige Voraussetzung für den Triumph des Bösen ist, dass gute Menschen nichts tun». Diesen Satz, der dem britischen Philosophen Edmund Burke aus dem 18.Jahrhundert zugeschrieben wird, liess sich de Vries auf Englisch auf seinem rechten Oberarm tätowieren. Nichts tun sei für ihn keine Option, erklärte der Niederländer 2016 an einer Preisverleihung, während er mit seinem Hang zur Selbstinszenierung den Ärmel hochkrempelte, um dem Publikum das Tattoo zu zeigen.
Sein Engagement für all jene, die den Glauben an die niederländischen Polizeibehörden oder die Rechtsprechung verloren haben, hat de Vries gross gemacht. Tagtäglich landen Dutzende E-Mails mit Hilferufen von verzweifelten Menschen in seinem Postfach. Getreu seinem Motto, nicht zu schweigen, sondern zu handeln, versucht de Vries, den Bittstellern zu helfen.
So deckte er im Lauf der Jahre mehrere Justizirrtümer auf und sorgte für die Wiederaufnahme von Verfahren in alten, ungelösten Verbrechen, sogenannten «cold cases». Einem Terrier gleich, beisst er sich jeweils in den Dossiers fest und hilft mit TV-Auftritten nach, wenn eine Sache in Vergessenheit zu geraten droht. Als Hans-Dampf-in-allen-Gassen schrieb er zudem ein gutes Dutzend Bücher, unter anderem über die Entführung des Biermagnaten Freddy Heineken. Und er bemühte sich selbst mit dem Königshaus.
Als Mabel Wisse Smit in die Familie der Oranjer einheiraten wollte, spürte de Vries einen ehemaligen chilenischen Leibwächter des berüchtigten Amsterdamer Drogenbarons Klaas Bruinsma auf. Auf einem Esel sitzend, beteuerte der betagte Mann vor laufender TV-Kamera, Mabel sei Bruinsmas Gangsterbraut gewesen. Die Fernsehsendung des geradlinigen Reporters führte zu einer so heftigen Kontroverse, dass das Parlament die Zustimmung zur Heirat verweigerte – der Königssohn wurde von der Thronfolgerliste gestrichen.
Warum die Niederlande zum Drogenland wurde
Lange Zeit galten die Niederlande im Umgang mit weichen Drogen als Vorbild. Seit den achtziger Jahren wird hier der Konsum geduldet. Haschisch und Marihuana dürfen in Coffee-Shops legal gekauft werden; der Besitz von kleinen Mengen wird strafrechtlich nicht verfolgt. Der Staat sieht die Cannabis-Kneipen als ganz normale Betriebe, die Steuern und Sozialabgaben für ihre Angestellten entrichten müssen. Doch um die «Hintertür» der Coffee-Shops, um den Ursprung der Ware, die in diesen Kneipen angeliefert wird, hat sich die Politik nie gekümmert. Das sollte sich rächen.
Noch in den neunziger Jahren waren die Lieferanten Studierende oder Hausfrauen, die sich mit der Aufzucht von ein paar Pflanzen ein Zubrot verdienten. Als die wechselnden Regierungen des Christdemokraten Jan Balkenende ab 2002 einen repressiven Kurs in der Drogenpolitik einschlugen, vertrieben sie zwar die privaten Hobbyzüchter. Doch die Coffee-Shops blieben bestehen. Ein Widerspruch.
In die Lücke sprangen organisierte Banden wie jene von Ridouan Taghi, die Hasch-Kneipen belieferten und Rauschpflanzen im grossen Stil anbauen liessen. Im Laufe der Jahre schufen sie in den Niederlanden weit verzweigte, gut organisierte Netzwerke mit eigenen Häusermaklern, Notaren, Transporteuren und Elektrikern, die verdeckt Leitungen für die Stromversorgung der Gewächshäuser mit den Pflanzen legten. Die Folge: Vor allem in den Südprovinzen des Landes wurden immer mehr Menschen von diesem kriminellen Milieu angesogen.
Mittlerweile bringt vor allem das Geschäft mit dem Kokain Höchstgewinne. Mit den grossen Häfen Rotterdam und Amsterdam sind die Niederlande eine Drehscheibe für den Drogenschmuggel geworden. Die Drogenkartelle profitieren zudem von der ewig zaudernden Regierung, die sparen will oder sich weigert, für die Verbrecherjagd mehr Geld zu sprechen. «Wir stehen dem organisierten Verbrechen mit einer unorganisierten Behörde gegenüber», brachte es ein hoher Beamter auf den Punkt.
In den letzten Jahren machte sich de Vries aber immer öfter einen Namen als Seelentröster. Er stand überforderten Angehörigen von Opfern bei, beriet sie und trat als deren Sprecher in der Öffentlichkeit auf. Es ist gut möglich, dass de Vries wegen dieser Rolle nun erschossen werden sollte. Denn der illustre Kriminalreporter ist auch die Vertrauensperson von NabilB. geworden, dem Kronzeugen im Prozess gegen den «Kleinen» und dessen brutale Bande.
Illoyalität aber duldet Taghi nicht, wie zahlreiche von der Polizei entschlüsselte Handybotschaften zeigen. Wer sich gegen den 43-jährigen Drogenbaron stellte oder nur schon mit dem Gedanken spielte, mit der Polizei zu plaudern, landete unweigerlich auf seiner Todesliste.
Die Spur der Morde
Seit März läuft nun einer der aufsehenerregendsten Prozesse der niederländischen Justizgeschichte. Den 17 Angeklagten, allen voran Ridouan Taghi, wirft die Staatsanwaltschaft sechsfachen Mord und mehrfach versuchten Mord vor. Den Stein ins Rollen gebracht hatte NabilB., dem selbst zwei Morde zur Last gelegt werden. 2017 war er von der Polizei gefasst worden, später liess er sich auf einen Handel mit der Justiz ein: Aussage gegen die Bande von Taghi gegen eine Strafminderung.
Der Preis dafür ist hoch. Wenige Tage, nachdem die Staatsanwaltschaft Nabil B. als Kronzeugen präsentiert hatte, wurde sein unbescholtener Bruder Reduan, Direktor einer Reklameagentur in Amsterdam, im März 2018 kaltblütig erschossen. Im Herbst 2019 traf es den Anwalt von NabilB., er starb noch am Tatort, ebenfalls in Amsterdam. Der Justizminister sprach von einem Anschlag auf den Rechtsstaat.
Wenige Monate zuvor hatten die Behörden de Vries gewarnt, auch er stehe auf der Todesliste von Taghi. Der Kriminalreporter lässt sich nicht beeindrucken. Als NabilB. nach dem Tod des Anwalts Derk Wiersum seinen Rechtsbeistand neu organisiert, gewinnt er de Vries als Berater. Es ist der Frühsommer 2020. Einmal mehr hatte der Reporter die Grenzen von Recherche und Berichterstattung überschritten. Selbstmarketing und Eitelkeit, der Glaube an das Prinzip Gerechtigkeit, wohl auch eine Faszination für die Untiefen der menschlichen Seele, wie sie bei Kriminellen zutage kommen, mischen sich.
Doch Taghi, der «Kleine», wurde nun tatsächlich zu de Vries’ Gegner. 2019 hatte ihn die niederländische Polizei in Dubai gefasst. Als junger Mann war Taghi in den Haschischhandel eingestiegen und hatte später auf Kokain umgesattelt. Dabei ging er mit extremer Rücksichtslosigkeit vor, wie die Aussagen von Kronzeuge NabilB. belegen sollen. «Ich brauche Blut», tippte er einmal ins Handy.
De Vries hat das nicht abgeschreckt. Er sei von Natur aus nicht ängstlich, erklärte er unbeirrbar noch vor wenigen Wochen. Ein Kriminalreporter, der in einer brenzligen Situation finde, nun werde ihm die Sache zu gefährlich, sollte besser für eine Frauenzeitschrift arbeiten, sagte de Vries. Ein Macho ist er auch.
Anja Burri
3 min